Migration ist ein überaus spannendes und sehr virulentes Thema. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Ausstellung „Alles fremd – alles Tirol“, die 2016 hier im Volkskunstmuseum stattfand. Zu meinem damaligen Blogbeitrag geht’s hier. Und ich erinnere mich an das Forum Migration, durchgeführt vom Tiroler Landesmuseum 2018, das mich ebenfalls sehr begeisterte. So viele Zugänge, so viele Eindrücke und Anregungen. „Al lavoro! Über die Zuwanderung aus dem Trentino im 19. Jahrhundert“ schließt also fast schon an eine Tradition an, zumal das Volkskunstmuseum auch dieses Mal mit dem Zentrum für Migration in Tirol (ZeMiT) kooperierte.

EUREGIO-MUSEUMSJAHR 2021

Gemeinsam mit der Ausstellung „Gehen – Fahren – Reisen. Mobilität in Tirol“, die derzeit im Zeughaus stattfindet, ist die Sonderausstellung im Volkskunstmuseum in das Euregio-Museumsjahr 2021 eingebunden. Es stellt die Verbindungen, das Gemeinsame der historisch eng verbundenen Regionen Tirol, Südtirol und Trentino in den Mittelpunkt.

Seit dem Spätmittelalter war die Grafschaft Tirol ein mehrsprachiges Land. Deutsch-, Ladinisch- und Italienischsprachige lebten neben- und miteinander. Wobei die Region südlich des Brenners allgemein als „Welschtirol“ bezeichnet wurde. Erst unterschied man zwischen Welschtirol (für Trentino) und Südtirol.
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörten Tirol, Südtirol und Trentino zusammen. Erst mit dem Friedensvertrag von Saint Germain 1919 fiel der südliche Landesteil an Italien, wurde der Brenner Staatsgrenze.

MEHRSPRACHIG UNTERWEGS

Die Ausstellung knüpft an die noch gemeinsame Zeit an, konzentriert sich auf die Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die zu einer verstärkten Arbeitsmigration aus dem Trentino führten.
Wanderhändler und -arbeiter zirkulierten immer schon. Bis dahin waren es aber hauptsächlich die Eliten, die zwischen Trient, Bozen und Innsbruck wechselten: Beamte etwa, die versetzt wurden, Studierende, die sich in Innsbruck inskribierten, aber auch Schüler, die eine Ausbildung etwa an der Gewerbeschule machten.
Das historische Tirol entsprach seiner Mehrsprachigkeit und verfügte über eine zweisprachige Verwaltung. Ab 1814 erschienen alle Landesgesetze und -verordnungen in Deutsch und Italienisch.

AL LAVORO! – AUF IN DEN NORDEN

Im 19. Jahrhundert förderten Industrialisierung und der Aufbau der Bahnverbindungen zwischen Nord und Süd, Ost und West die Arbeitsmigration. Arbeitsuchende aus dem Trentiner Raum und Norditalien (insbesondere Friaul und Venetien) kamen ins Wipptal, ins Pustertal und ins Inntal, fanden Beschäftigung beim Bahn- und Tunnelbau oder verdingten sich in den neuen Fabriken. In Innsbruck bot zum Beispiel die 1839 eröffnete Textilfabrik Herrburger und Rhomberg insbesondere Frauen und jungen Mädchen Beschäftigung.

VERNETZTE BIOGRAFIEN

Wie eng verwoben Familiengeschichten und Stammbäume mit dem historischen Tirol sind, zeigt sich in der Ausstellung „Al lavoro!“ immer wieder eindrücklich. Besonders ins Auge sticht hier eine Installation, die historische Porträts und Biografien in Beziehung setzt.

Da ist von Annunziata Cortelletti zu lesen, die 1866 in Villazzano (Trient) auf die Welt kam, 1889 Andreas Philadelphy heiratete. Dieser stammte ursprünglich aus der heutigen Slowakei. Die Familie lebte zunächst in Trient, dann in Bozen und schließlich in Innsbruck.
Oder von Antonio Spagnolli aus Reviano d’Isera, der in Venedig und Rom studierte. 1882 kann der Bildhauer nach Innsbruck, wo er die die marmornen Porträtköpfe an der Fassade des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum gestaltete.

INTERVIEWS ERÖFFNEN WELTEN

Spannend sind auch die Interviews mit Wissenschaftlern, die Einblicke in spezielle Themen geben. So erläutert die Ethnologin Anita Konrad anhand von „Vollständiges Tiroler Kochbuch für deutsche und wälsche Küche“ aus dem Jahr 1855, was so eine Publikation alles über die Beziehungen zwischen den Sprachgruppen verrät.
Die Historikerin Gunda Barth-Scalmani wiederum vermittelt anschaulich, wie die „Fatti d’ Innsbruck“ 1904 abliefen. Im Zuge der Eröffnung der italienischen juridischen Fakultät in der Liebeneggstraße kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen deutschnationalen und italienischen Studierenden. Die Zusammenstöße forderten einen Toten und mehrere Verletzte. Der Nationalismus hatte sich längst eingepflanzt.

ENDE IM NATIONALISMUS

Dieser hatte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zugenommen und vergiftete zusehends das Zusammenleben der Sprachgruppen in Tirol. Fatti d’ Innsbruck stellten einen der blutigen Höhepunkte dar. Der Erste Weltkrieg sollte diese Spannungen noch einmal verstärken. Er endete mit der Teilung Tirols: Südtirol und Trentino fielen an Italien.
Doch die über Jahrhunderte gewachsenen Verbindungen der Region nördlich und südlich des Brenners leben bis heute. „Al lavoro! Über Zuwanderung aus dem Trentino im 19. Jahrhundert“ macht Lust, sich auf Spurensuche zu begeben.

VERBINDUNGEN BIS HEUTE

Verweise auf die gemeinsame Geschichte finden sich nicht nur in Innsbrucker Familiennamen wie Tomaselli, Boschi, Ischia, Trentini oder Moschen, sondern auch in Straßennamen wie Alois Negrelli oder Artur Nikodem.

Tipp: Auf dem Weg in die Ausstellung „Gehen – Fahren – Reisen. Mobilität in Tirol“ im Zeughaus kann man am Ferdinandeum vorbeispazieren und die Marmorfiguren von Spagnolli betrachten. Und wer einen Schlenker zum Sillpark macht, steht auf dem ehemaligen Gelände der Textilfabrik Herrburger und Rhomberg.

Tiroler Volkskunstmuseum
„Al lavoro! An die Arbeit! Über die Zuwanderung aus dem Trentino im 19. Jahrhundert”

bis 26. Oktober 2021
Universitätsstraße 2
6020 Innsbruck
Tel. +43 512 59489 510
Öffnungszeiten: tägl. 9.00 – 17.00 Uhr

Zeughaus
„Gehen – Fahren – Reisen. Mobilität in Tirol“

bis 3. Oktober 2021
Zeughausgasse 1
6020 Innsbruck
Öffnungszeiten: Di–So 9.00–17.00 Uhr

Auf der Website der Tiroler Landesmuseen finden sich die aktuellen Covid-19-Schutzmaßnahmen.

Fotos, wenn nicht anders angegeben: Susanne Gurschler

Eine Übersicht über das Ausstellungsprogramm in den Museen in Innsbruck und Umgebung findet sich auf innsbruck.info

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