Wem Foodporn ein Begriff ist, der weiß um die erregende Kunst der besonderen Kulinarik. Wem Die Wilderin ein Begriff ist, der weiß das meistens auch. Im Herzen der Innsbrucker Altstadt wird der Gaumen seit nunmehr sechs Jahren hingebungsvoll verwöhnt.

Kürzlich feierte man dort Geburtstag, und das natürlich ganz besonders kulinarisch. Eingeladen hat mich spontan ein lieber Gaumenfreund,  der sich mittlerweile selbst zum Team der Wilden zählen darf. Glück für mich, denn Reservierungen gibt es an diesem Tag keine. Grund und Anlass, der Nachwelt davon zu berichten. Selbstlos opfert man sich im Sinne der Berichterstattung.

Was den Gourmet erst zum Feinschmecker macht, ist die Lust am sinnlichen Tiefgang: Da will nicht nur der Gaumen hingebungsvoll gestreichelt, sondern auch das Auge ansprechend verwöhnt, und die Nase gekonnt herumgeführt werden. Ein Erlebnis mit allen Sinnen eben, das den Mehrwert bietet, der ereignisfreien Nahrungsaufnahme ein abenteuerliches Lustspiel entgegenzustellen. Essen für die Seele. Genau das haben sich die Küchenvirtuosen der Wilderin auf die Fahnen geschrieben. Darum isst man auch lokal und nachhaltig. Weil’s eben Sinn macht. Zum sechsten Geburtstag ist die Tischkarte denkbar kurz: Sechs Jahre, sechs Gänge, sechs Sinne. Es bleibt also spannend.

Ein Blick in die Küche der Wilderin. Teller werden garniert und vorbereitet.

Jeder Teller eine kulinarische Kreation: Sinnesfreuden in Handarbeit. (Foto: Simon Rainer/Wilderin)

6th Sense

Schon die Vorspeise beginnt mit der Rückführung zum inneren Urmenschen: Gereicht wird handgeschnittenes Beef-Carpaccio vom glücklich gealterten Hochlandrind Sonja (vom Hahntennjoch bei Imst), an Olivenöl vom lokalen Biobauern und einer Idee Verjus, für die Säure. Dazu handgemachtes Sauerteigbaguette, backfrisch von der Brotmanufaktur (Markhalle). Etwas Salz und Pfeffer, nur grob gestoßen, fertig. Das Fleisch: Acht Wochen dry-aged, eine Woche für jedes Lebensjahr, weiß Michael zu berichten. Er teilt sich mit seiner Schwester Claudia die Fäden, die im Hintergrund der Wilderin zusammenlaufen. „Ach, bitte mit den Händen essen, kein Besteck, danke!“ Schon ist er wieder weg. Der Höhlenmensch in mir frohlockt: Dieses war der erste Streich. Urgewaltig köstlich.

Sehen

Der zweite Gang führt die Augen erst in Versuchung, dann an der Nase herum und stiftet schließlich im Mund ordentlich Verwirrung. Was sich selbstbewusst als Topfenknödel verkleidet, entpuppt sich als schlagfertiges Pastetenknödeldoppel aus Leber und Schmorbraten. Dazu selbstgemachtes Butterbrioche, frech mit schwarzem Holunder-Glacé drapiert. Eine Komposition die dem Feinschmecker ein Lächeln ins Gesicht zaubert, weil das servierte Theaterstück eben ein sinnliches Verwechslungsspiel inszeniert. Dieser metaphorische Blick über den Tellerrand ist wenig überraschend dem Sehen gewidmet. Und unterstreicht gekonnt, wie gern das Auge mit isst. Als Michael am Nebentisch freundlich aber bestimmt das Handy verbietet, verstehe ich die Ernsthaftigkeit der Sinneswanderung: Der Moment ist flüchtig und soll hingebungsvoll genossen werden. Der Gourmet in mir nickt zustimmend und freut sich auf den nächsten Gang.

Riechen

Und schon ist die Nase dran, denn der dritte Gang bringt den zentralen Geschmackskolben erst so richtig in Fahrt: Schafskäse, heimischer Bärlauch, zarter Frischkäse und Knoblauch kommen in ein Butterbrotpapier geschlagen als dampfendes Paket auf den Tisch. Serviert von Claudia persönlich, die uns bittet das kleine Schleifchen am Paket direkt unter der neugierigen Nase zu öffnen, die Augen zu schließen und sich dem geschmackvollen Dampfbad einfach hinzugeben. Gesagt, getan: Die intensive Duftwolke empfängt mich einladend und erzählt vom Frühlingserwachen. Die Tafelrunde ist beeindruckt, die Gesichter am Tisch sprechen Bände und Claudia scheint zufrieden: Auch der dritte Gang ein ausgekochtes Spektakel.

Bärlauch mit Schafskäse, in Backpapier gedämpft.

Abenteuer für die Nase: Bärlauch mit Schafskäse. (Foto: weit)

Hören

Nummer Vier widmet sich dem Ohr – klingt spannend, ist es auch. Serviert wird ein Duett aus zweierlei Fleisch: Brustfilet vom freilaufenden Huhn samt Haut und Schweinsbraten mit Kruste. Dazu hauchzarte Karotten und Selleriechips, angerichtet auf einem kunstvollen Löffelwisch Basilikumpesto. Die knappe Anweisung der Küche: Mund auf, Augen zu, kauen und lauschen. Wer sich dabei die Ohren zuhält, hört noch besser. Schmatz nicht, ermahnte Mutter einst erzieherisch. Das ohrenbetäubende Lautspiel aus knusprig Krossem und fleischig Saftigem lässt das Kind in mir aber begeistert strahlen: Nochmaaal! Und natürlich erlaube ich es mir. Die lautstarke Komposition bringt Mund und Ohr nämlich erst so richtig zusammen. Ergebnis: Reihum breites Grinsen und glückliche Kinderaugen – Erziehungsauftrag abgehakt.

Fühlen

Mit Gang Fünf meldet sich Hochlandrind Sonja als Schmorbraten zurück. Garzeit im zweistelligen Stundenbereich, schüttelt Michael im Vorbeigehen aus dem Ärmel. Ich hab’s geahnt, denn gegen diese Textur ist Butter ein Filzteppich. Zum zart schmelzenden Fleisch in Natursaft gesellen sich Käsepolenta, Rohnen- und Selleriepüree. Die Kaumuskulatur ergibt sich bereitwillig charmantem Zungenspiel, während die Geschmacksknospen sich enthemmt gehen lassen. Als ich fertig bin will ich eine Zigarette. Draußen treffe ich Claudia und Michael, wir rauchen gemeinsam. Sie fragen mich was ich denke, und ich sage es ihnen. Dass ich gern darüber schreiben möchte, sage ich auch. „Eigentlich beweihräuchern wir uns nicht so gern.“, bläst sie etwas Rauch in die Luft. „Aber mach ruhig.“, zwinkert er und bittet mich nach Drinnen, zum letzten Tanz des Abends.

Wandtafel im Restaurant mit den Namen und Daten der verzehrten Tiere.

Ehre wem Ehre gebührt: Die Wall of Fame der Wilderin. (Foto: weit)

Schmecken

Gerade rechtzeitig zum Dessert beziehe ich wieder empfangsbereit Position. Satt bin ich eigentlich schon lange, aber wo ein Wille, da bekanntlich ein Weg. Und zum Grande Finale der Sinnesreise kommt der Topfenknödel dann doch noch. Im Schokobackteig, gefüllt mit Eis. Gegessen wird wieder mit den Fingern. Hier führt der sechste Gang den 6th Sense der ersten Stunde gekonnt zurück zum inneren Urmenschen und schließt kulinarisch wie erzählerisch den Kreis mit einem geschmackvollen Paukenschlag. Auch wenn ich mich in der Regel um gesellschaftsfähige Tischmanieren zu bemühen weiß – hier habe ich den Teller abgeleckt. Und zwar hemmungslos.

 

Dass man in der Wilderin den Gaumen meisterlich zu verwöhnen weiß, ist in Innsbruck längst kein Geheimnis mehr. Von den Franzosen Gault & Millau gab es dafür sogar eine Haube. Verdient, wie ich heute weiß. Dabei werden bei einer Bewertung maximal 19.5 von 20 Punkten vergeben. Warum? Weil nur das Göttliche Perfekt sein kann, das Menschliche hat Makel. Man muss den Franzosen in der Hinsicht wohl prinzipiell zustimmen. In der Innsbrucker Altstadt ist man in meinen Augen dennoch nah dran. Eine kulinarische Offenbarung war mein Besuch bei der Wilderin nämlich allemal. Da ist auch etwas Weihrauch durchaus angemessen.

 

Nachzuschmecken bei:

Die Wilderin, Seilergasse 5.
Geöffnet täglich außer Montag,  17:00 Uhr bis Mitternacht
Reservierungen unter +43 512 562728 oder online.

Ähnliche Artikel