Im Sommer des Jahres 15 v. Chr. verwüsteten römische Legionen Siedlungen im heutigen Nordtirol. Sie löschten damit auch die Kultur jener Menschen aus, die später als Räter bezeichnet werden sollten.

Es waren mehrere Legionen, die unter der Führung von Drusus und Tiberius über das heutige Tirol, Vorarlberg, die Ostschweiz und Teile des Schwabenlandes herfielen. Die Spuren der Verwüstung belegen 2000 Jahre später eindrucksvoll, dass die Römer keinen Stein auf dem anderen ließen.

Ein prähistorisches Dorf wird ausgelöscht

Die römische Invasion im nördlichen Voralpengebiet bedeutete das Ende der rätischen Kultur im heutigen Tirol. Die Spuren dieses Feldzugs sind auf der ‚Hohen Birga‘ in Birgitz heute noch sichtbar. Wie ’schockgefroren‘ wurden sie unter Schutt und Erde konserviert. Der etwa 500 m nördlich des Dorfzentrums gelegene Hügel namens ‚Hohe Birga‘ gibt jetzt sukzessive Häuser und Spuren eines Dorfes frei, das im 3. Jh. v. Chr. gegründet worden war und mit der Eroberung des Alpenraumes endete. Nach mehreren Jahren Forschung konnten Archäologen der Universität Innsbruck im heurigen Sommer weitere Gebäude der Siedlung entdecken und freilegen.

So schaute vermutlich das rätische Dorf auf der Hohen Birga mit seinen bisher entdeckten 13 Gebäuden in einer alten Rekonstruktion aus. vor dem römischen Überfall aus. Diese Darstellung hält den neuen Forschungsergebnissen kaum mehr stand.

Brandspuren an einem Haus auf der Hohen Birga. Bild: H. Heinricher/Archäotop Birgitz

Die Räter  – ein geheimnisumwittertes Volk

Was waren es für Menschen, diese Räter? Eine Frage, die nicht nur ich mir stelle. Auch wissenschaftlich ist sie noch nicht gelöst. Sicher scheint, dass es sich bei den Bewohnern der römischen Provinz Rätien, wie sie von den Römern nach der Eroberung getauft worden war, um keine homogene Gesellschaft gehandelt hat. Es war eher ein Nebeneinander von unterschiedlichen Stämmen.  Bei römischen Geschichtsschreibern ist denn unter anderen von Trumplini, Camunni und Vennonetes, von Isarci, Breonen, Genaunen und Ambisonten die Rede. Deren  Herkunft liegt immer noch im Dunkel der Geschichte.

Waren die Räter als Volk nur ein Produkt und eine Projektion der Römer? Denn sie benannten das eroberte Gebiet ‚Raetia‘. Und deren Bewohner eben Räter. Es ist ja nicht einmal sicher, ob diese eine gemeinsame Sprache hatten. Oder ob es ein Mischmasch verschiedener Dialekte war. Stammten die Räter von Etruskern, Illyrern oder Kelten ab oder war es vielleicht sogar ein autochthones alpines Volk? Alles ist möglich und nix ist fix.

So schaut’s aus, wenn Archäologen die Vergangenheit der Hohen Birga erforschen. Bild: F. Müller

Dr. Florian Müller

Die „Fritzens-Sanzeno-Kultur“

Auch für Dr. Florian Müller, den Archäologen und ‚Chefausgräber‘ auf der Hohen Birga bleiben die als ‚Räter‘ bezeichneten Bewohner des nördlichen Voralpenraumes geheimnisvoll. „Wo sie ursprünglich hergekommen sind kann wissenschaftlich nicht zweifelsfrei belegt werden“, sagt er. „Was diese Menschen allerdings verbindet sind die archäologisch fassbaren Überreste, also beispielsweise die Art ihrer Keramik und ihres Schmuckes.“ Archäologen sprechen daher von einer ‚Kultur‘, die sie  „Fritzens-Sanzeno-Kultur“ nennenUnd mit der haben wir es auf der Hohen Birga bei Birgitz zu tun.

Verehrten die Räter Göttinnen?

Historiker vermuten denn auch, dass die Menschen der nördlichen Voralpen zwischen Zürich und Osttirol, Verona und Augsburg eher eine Glaubensgemeinschaft denn eine Ethnie waren. Vereint unter einer Trinität von Göttinnen, die in Vorarlberg noch namentlich als Raetia, Versettla und Madrisa bekannt sind und bis heute in Bergnamen weiterleben. Ich bin sicher: in Tirol wurden sie zu jenen sagenhaften weiblichen Gestalten, die heute noch als die „drei Saligen Fräulein“ verehrt werden. Sogar ihre Namen sind noch bekannt: Ambet, Gwerbet und Wilbet. Dazu habe ich auch einen Blog verfasst. 

Dieses Bild der „3 Saligen Fräulein“ hängt in der Vigil-Kirche zu Obsaurs. Ein letzter Blick auf die religiöse Vergangenheit Tirols und die Räter?

Der schlagartige Untergang des alten Birgitz

Die Unterwerfung der Räter war vermutlich nicht einmal das eigentliche Kriegsziel der beiden Kaisersöhne Drusus und Tiberius, als sie die Alpen eroberten. Zuerst besetzten sie das heutige Südtirol, anschließend im Jahre 15 v. Chr. das Nordtiroler Inntal, das sie wahrscheinlich mit Mord und Brand überzogen. Das eigentliche Ziel der Aggression war aber Germanien, dessen Eroberung ihr Stiefvater Augustus anstrebte. Ein römisches ‚Projekt‘ das einige Jahre später, nämlich um 9 n. Chr., im Teutoburger Wald im  größten Fiasko der römischen Militärgeschichte enden sollte.

Für den Überfall auf Rätien musste sich Rom also zuerst einen propagandistischen Grund zurecht legen. Wenig überraschend ist es eine Propagandaphrase, die  heute noch herhalten muss, um einen Kriegszug zu rechtfertigen: Die Räter würden römisches Gebiet ständig überfallen und Angst und Schrecken verbreiten. Weit hergeholt wenn man bedenkt, das der römische Geschichtsschreiber Strabon die in Tirol siedelnden Stämme nicht zu den „wildesten Alpenstämmen“ zählte. 

Das Modell eines rätischen Hauses im Rätermuseum zu Birgitz von Dietmar Zauchner.

Die Räter verlieren ihre Freiheit und Unabhängigkeit

Das Schicksal der rund 100 Menschen, die beim Einmarsch der römischen Truppen auf dem heute ‚Hohe Birga‘ genannten Hügel nördlich von Birgitz lebten, kann nur vermutet werden. Lediglich ein Faktum wird durch die Ausgrabungen endgültig untermauert: Mit der Eroberung war auch gleichzeitig das Ende dieser Siedlung verbunden. Während Paul Gleirscher, heute Leiter der Abteilung für Ur- und Frühgeschichte am Landesmuseum Kärnten in Klagenfurt, in seiner Dissertation von 1984 („Die Kleinfunde von der Hohen Birga bei Birgitz“) annahm, dass die Siedlung auf der Hohen Birga in einem Feuer endete ist sich Florian Müller nicht so sicher. „Brandhorizonte sind nur sehr spärlich vorhanden. Eines kann aber mit Sicherheit gesagt werden, nämlich dass die Siedlung mit der römischen Eroberung ihr Ende fand. Wir haben bisher keine Spuren gefunden, die auf eine erneute Besiedelung des Hügels in den folgenden Jahrhunderten  hätten schließen lassen.“ Sicher ist: Die Räter hatten ihre Freiheit und Unabhängigkeit verloren.

Bis zur nächsten Grabungskampagen auf der Hohen Birga wird diese Hausgrube einer ‚Casa Raetica‘ abgedeckt. Um sie vor Witterungseinflussen zu schützen.

Alles Rätische verschwindet schlagartig

Ob die Römer mordend und brandschatzend durch das Inntal gezogen sind, kann Müller nicht wirklich bestätigen. Auch Beweise eines konkreten Kampfes um die „Hohe Birga“ wurden bisher nicht entdeckt. „Erstens fehlen uns Gräber der Opfer. Zum anderen sind auch Waffenfunde sehr spärlich, wobei gesagt werden muss, dass Metallteile nach Schlachten meist akkurat aufgelesen worden sind.“ Was allerdings naheliegend wäre: Die Römer haben die Bewohner der Höhensiedlungen zwangsweise ins Tal umgesiedelt um vor etwaigen Überfällen sicher zu sein. Viele junge Räter ließ der römische Kaiser außerdem als wertvolle Soldaten für seine Heere ausheben. Müller kann sich aber auch vorstellen, dass den Rätern die nicht zu verleugnenden Vorzüge der römischen Lebensweise schon bald so behagten, dass sie sich der neuen Kultur freiwillig anschlossen. 

Auf diesem Bild von Helmut Heinricher sieht man die Dimensionen der Häuser. Die Hauswand (im rechten Bereich des Bildes) wurde bergseitig mit Steinen ‚hinterfüllt‘. Bild: H. Heinricher

Birgitz inszeniert seine Vergangenheit

Was mich überaus angenehm überrascht ist das Interesse der Birgitzer Bevölkerung an der eigenen Vergangenheit. Immerhin lebten auf der Hohen Birga vor knapp 2500 Jahren dauerhaft rund 100 Menschen, die durchaus Vorfahren der heutigen Bewohner sein könnten. Zudem ist die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte nicht jedermanns Sache.

Schon 2001 wurde in Birgitz der Verein „Archäotop Hohe Birga“ mit der Absicht gegründet, die Geschichte des rätischen Dorfes zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. DI Helmut Heinricher leitet den Verein als Obmann und war maßgeblich daran beteiligt, dass die Grabungsarbeiten nach jahrzehntelanger Pause wieder aufgenommen worden sind. Denn in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts war mit Ausgrabungen begonnen und in den 40er und 50er Jahren fortgesetzt worden. Dann legte sich der Mantel des Vergessens über die historische Anlage. 

Mysteriös sind die langen Eingänge in die rätischen Häuser. Schmal und bisweilen mehrere Meter lang führen sie bisweilen zick-zack ins Hausinnere. Vielleicht zur Verwirrung der Geister? Durchaus möglich, waren die Räter doch sehr abergläubisch.

Der Architekt Helmut Heinricher, er ist auch Obmann des Vereins Archäotop Hohe Birga, konstruierte Teile eines der freigelegten rätischen Häuser. Wie man sieht, standen die einstigen tragenden Holzsäulen auf Steinen. Einzig und allein deshalb, um sie vor Fäulnis zu schützen.

 

Gemeinsam mit der Gemeinde Birgitz und dem Institut für Archäologien der Universität Innsbruck unter der Leitung von Dr. Florian Müller wurde 2009 begonnen, die Anlage zu säubern, neue archäologische Ausgrabungen vorzunehmen und notwendige Restaurierungs- und Konservierungsmaßnahmen an den dabei freigelegten Überresten einzuleiten.

Es ist ein ausgesprochen schöner Erfolg, dass zwei Häuser nach den Ausgrabungen nicht wieder zugeschüttet wurden sondern für Besucher ‚offen‘ stehen blieben und so besichtigt werden können. Sie sind mit einem Flugdach versehen um sie vor Wind und Wetter zu schützen. Sie vermitteln einen guten Eindruck davon, wie das Wohnen und Leben vor 2000 Jahren in Birgitz ausgeschaut hat.

Respekt den Birgitzern! Sie stellen sich der Geschichte und richteten ein kleines, fein gestaltetes und interessantes Museum ein.

Das Rätermuseum in Birgitz

Mag. Dietmar Zauchner

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass im Gemeindezentrum in Birgitz ein kleines ‚Rätermuseum‘ eingerichtet worden ist. Bemerkenswert deshalb, weil üblicherweise die Fundstücke nach Innsbruck gebracht werden und nicht mehr zurückkehren. Birgitz hat es geschafft, die Funde nicht nur zurück zu erhalten sondern auch zu präsentieren. Nur wenige Orte in Tirol haben soviel Engagement und Weitsicht, und stellen ihre kulturelle Vergangenheit öffentlich vor.

Geradezu großartig finde ich das Angebot dieses Museums, Führungen und museumspädagogische Programme für Schulklassen durchzuführen. Dr. Annegret Waldner und Mag. Dietmar Zauchner stehen den Besuchern jederzeit gerne zur Verfügung, um die Einblicke in die rätische Vergangenheit des Ortes zu einem kleinen Erlebnis zu machen.

Florian Müller hingegen träumt davon, künftigen Besuchern die Anlage auf der Hohen Birga mit Hilfe modernster digitaler Technik in Form eines Audioguides zu bieten. „Wir sind am Überlegen, wie wir die Ergebnisse unserer Forschungsarbeiten spannend, lehrreich und kurzweilig präsentieren können“, sagt er.

Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Audio-Digitale Aufarbeitung der historischen Stätte.

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