Die Königsdisziplin des Skitourensports sind seit jeher große Skidurchquerungen. Auch die alten Tourenfüchse rund um Innsbruck waren bereits vor vielen Jahren auf der Suche nach solchen Herausforderungen in ihrem Sport. Und haben uns einige interessante Skitouren hinterlassen. Eine Geschichte von Tradition, Masochismus und unvergesslichen Erlebnissen.

Das Frühjahr ist die Zeit der Skitouren. Seit über einem Jahrhundert lockt das alljährliche Schneehöhenmaximum – gepaart mit im Schnitt geringerer Lawinengefahr als im Hochwinter, angenehmen Temperaturen und einer stärker werdenden Sonnenstrahlung – Gäste und Einheimische in die Berge, um sie auf zwei Brettln zu erkunden. Die Zeit der steilen Abfahrten, langen Tourentage und vor allem der Hüttentouren und Skidurchquerungen beginnt.

Eine Erzählung

Als mir mein Vater vor einigen Jahren vom Orient Express und seiner persönlichen Begehung dieser Skidurchquerung zum ersten Mal erzählte, konnte ich ihm seine Geschichte fast nicht glauben. Der Orient Express war eine Prestige-Angelegenheit für alle Skitourengeher im Großraum Innsbruck mit Start in Gries im Sulztal – einem Seitental des Ötztals – und Ziel in Mutters bei Innsbruck. Die Strecke bewältigt man allerdings an einem Tag. Angespornt durch diese Erzählung machte ich mich auf die Suche nach den Ursprüngen der Sellrainer Skidurchquerungen.

Kühtai-Sellraintal: Die Wiege der alpinen Skitouren

Die Region Kühtai-Sellraintal weist eine lange Skitourentradition auf. Nicht umsonst! Denn das Gelände eignet sich optimal um es auf zwei Brettln zu erklimmen und später eine perfekte Abfahrt zu genießen. Dies hängt mit der Geologie zusammen, vor allem mit der Art wie verschiedene Gesteine verwittern. In den Stubaier Alpen – zu denen unsere Region zählt – finden wir verschiedenste Gneise und Glimmerschiefer. Diese Gesteine präsentieren sich teils sanft in ihrer Form wie in den Kitzbühler Alpen, teils etwas schroffer. Und ergeben in Summe perfekte Bedingungen für ein tolles Skitourenerlebnis. Es gibt perfekte Skihänge und „-hügel“ mit tollem Skigelände vom Gipfel bis zum Parkplatz. Gleich daneben findet man Berge mit ebenso schönem Skigelände aber einem rassigen Gipfelanstieg. Allerdings niemals zu steil oder so schwierig um klettern zu müssen.

Abfahrt vom Schaflegerkogel im idealen Skigelände

Perfekte Skiberge im Sellraintal. Hier der Lüsener Fernerkogel.

Der Ski Klub Innsbruck und die Skihütte im Fotschertal

Diese perfekte Symbiose und ihre positive Auswirkung auf das Skitourengehen haben bereits die Skipioniere des S.K.I – Ski Klub Innsbruck – vor über hundert Jahren für sich entdeckt. Sie erbauten im Fotschertal, einem Seitental des Sellrain – 1912 ihre Skihütte als Stützpunkt. Es dauerte nicht lange bis die Fotscher Skihütte, wie sie forthin genannt wurde, auch Ausgangspunkt für ein besonderes Skitourenrennen wurde. Wohl eines der ersten Skitourenrennen der Alpen: den Fotscher Ski Express.

Der Fotscher Ski Express

Jahr für Jahr im März trafen sich die damals noch relativ wenigen Tourenbegeisterten aus dem In- und Ausland im Fotschertal um die Strecke Skihütte – Schaflegerkogel – Kemater Alm – Hoadl – Axamer Lizum – Birgitzköpfl – Mutters zum Gasthaus Lärchenwald hinter sich zu bringen. Die Strecke beinhaltete über 1.900 Aufstiegshöhenmeter, was die schnellsten Athleten in vier Stunden bewältigten. Wohlgemerkt mit über zwei Meter langen Holzskiern, einer filigranen Bindung, Seehund-Spannfellen und Wollbekleidung!

Toller Pulverschnee bei einer Abfahrt am Fotscher Express.

Die Entwicklung des Fotscher zum Orient Express

Als der Fotscher Ski Express 1969 zum letzten Mal ausgetragen wurde, sponnen findige Skitourenfüchse diese eintägige Skidurchquerung im Laufe der Jahre weiter. Sie entwickelten aus dem Fotscher Express zuerst den Großen Fotscher Express, dann den Super Express und zuletzt den Orient Express. Allen gemeinsam ist die Erweiterung des Fotscher Express nach Westen hin. Wobei die Strecke beim längsten Vertreter – dem Orient – wie folgt verläuft:

Winnebach (Ortsteil Gries im Sulztal) – Breiter Grieskogel, 3287m – Winnebachjoch – Winnebacher Weißerkogel, 3185m – Rosskarscharte – Gleirschtal – Zischgeles, 3005m – Praxmar – Roter Kogel, 2834m – Fotschertal – Schaflegerkogel, 2405m – Kemater Alm – Hoadl, 2340m – Lizum – Birgitzköpfl, 2035m – Gasthof Lärchenwald bei Mutters

Der Orient Express. Vermutlich wurde er so benannt weil er wie die gleichnamige Zuglinie von West nach Ost verläuft.

Lukas‘ Begehung

Und damit sind wir wieder bei der Erzählung meines Vaters und seiner Eintagesbegehung dieser Strecke. Ich war damals in den Anfangsjahren meiner Skitourenkarriere und konnte fast nicht glauben wie es möglich sein soll 5.900 Aufstiegshöhenmeter und gesamt knapp 60 Kilometer in unter 24 Stunden mit Ski hinter sich zu bringen. Wohlgemerkt im Gelände und nicht als Pistenskitour.

Als die Jahre vergingen, ich mit mehreren alten Hasen darüber sprechen konnte die ihn ebenfalls in einem Stück absolvierten und ich mich immer weiter an diese Distanzen auf Skitour herantasten konnte, habe ich ihn im März 2017 selbst durchgeführt. Nur so viel dazu: Es war ein einmaliges, eindrucksvolles und bewegendes Erlebnis. Nicht nur von der körperlichen Herausforderung her. Auch die landschaftlichen Vorzüge wie der Anblick des Lüsener Fernerkogels vom Anstieg zum Roten Kogel aus, ein atemberaubender Sonnenaufgang, die rotgolden schimmernden Kalkkögel zu Sonnenuntergang und toller Pistenfirn in der hereinbrechenden Nacht nach Mutters hinunter haben diese Tour in meinen Kopf eingebrannt.

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Sonnenaufgang bei meiner Orient Express Begehung. Die Sonne steht genau über dem Lüsener Fernerkogel. Links sieht man die Villerspitzen.

Am zweiten Gipfel, dem Winnebacher Weißerkogel. Hinten sieht man den Breiten Grieskogel von wo aus das Sonnenaufgangsfoto entstanden ist.

Gipfelkreuz Winnebacher Weißerkogel

Die Sonne verschwindet wieder am letzten Gipfel, dem Hoadl. Dort befindet sich heute die höchste Bergstation des Skigebiets Axamer Lizum.

Die Sellrain Sinfonie und weitere Skidurchquerungen im Sellrain

Der Fotscher Express stellt damit sozusagen die „Mutter aller Skidurchquerungen“ in den Stubaier Alpen und im Großraum Innsbruck dar. Denn Skidurchquerungen – egal ob eintägig oder in mehreren Tagen – haben nicht nur bei uns Tradition. Die bekannteste Vertreterin in den Alpen ist wohl die Haute Route in der Schweiz. Aber auch in Bayern gibt es einige derartige Touren – diese werden dort allerdings als Reibn bezeichnet.

Durch den Orient Express inspiriert, sind mir persönlich viele weitere Ideen zu eintägigen Skidurchquerungen im Sellrain entstanden wie zum Beispiel der Lüsener Express. Denn das Gebiet eignet sich durch das Gelände einfach optimal für solche Aktionen.

Mit zu den schönsten zählt für mich die Sellrain Sinfonie. Dabei durchquert man die gesamte Region Kühtai-Sellraintal in einem Zug: Man startet im westlichsten der zehn Sellrainer Seitentäler – dem Wörgetal. Weiters überquert man neun Gipfel und kommt schließlich durch das Senderstal – dem östlichsten der Sellrainer Seitentäler – nach Grinzens.

Auf der Hinteren Karlesspitze, dem ersten Gipfel der Sellrain Sinfonie, mit Blick nach Kühtai.

Die Strecke der Sellrain Sinfonie. Ich habe damals für die Strecke 15h 50′ gebraucht.

Der letzte Anblick während der Sellrain Sinfonie: Die Kalkkögel östlich der Sellrainer Berge

Für jeden ambitionierten Tourengeher: Orient Express in einer Woche

Natürlich zählt die Bewältigung solcher Strecken in einem Zug mehr zum Test der eigenen, körperlichen Fitness als zu einem genüsslichen Skitourenerlebnis. Für einen weniger masochistisch veranlagten aber dennoch ambitionierten Tourengeher empfiehlt es sich, die Strecke des Orient Express idealerweise in sechs Tagen (+ einen Tag An-/Abreise) durchzuführen. Es gibt einige Hütten und Übernachtungsmöglichkeiten direkt an der Strecke, die über „normal-lange“ Tagesetappen voneinander entfernt sind. Die Pforzheimer Hütte, die Potsdamer Hütte oder die Kemater Alm, um nur ein paar von ihnen zu nennen. Die beste Zeit dafür ist März und April. Wer die Touren in einem Zug durchführen möchte, kann es im Mai auch noch angehen. Dann haben die meisten Hütten allerdings geschlossen und man muss mit einigen Skitragepassagen rechnen.

In einer Woche füllt man am Orient Express perfekt einen Skitouren-Urlaub im Frühjahr aus. Man nimmt überwältigende Erfahrungen in den Alltag mit, von denen man lange zehren kann. Ganz nebenbei ist man auf den Spuren der Pioniere des Skitourensports aus dem Großraum Innsbruck unterwegs. Und schon allein den Namen in seinem Tourenbuch stehen zu haben, ist bereits etwas ganz Besonderes!

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