Seit einiger Zeit überkommt mich öfters spontan eine innere Zufriedenheit und Freude. Nicht wegen etwas, was an sich besonders wäre. Auch nicht, weil ich immer wieder einen neuen Grund hätte mich zu freuen. Im Alltag, einfach so. Und zwar immer dann, wenn ich mit meinem kleinen, weißen Toyota vom weiten Inntal bei Kematen in unser „Strassl“ ins Sellrain einbiege. Warum sollte ich mich mehr freuen, in unser im Grunde unspektakuläres Tal zurückzukehren? Es gibt schließlich viele schöne Plätze in Tirol und vor allem wesentlich spektakulärere Täler. Egal ob in Hinblick auf die natürlichen oder die von Menschen geschaffenen „Attraktionen“? Die Antwort ist einfach und komplex zugleich. Doch dazu müsst ihr mir ein Stück durch meine Gedankenwelt bis nach Hause folgen…
Gedankenreise von der Stadt bis ins hinterste Sellraintal
Heute ist der 21. Juni. Sonnenwende. Als ich den Eingang in die Schlucht zu Beginn des Sellraintales passiere, schalte ich die Klimaanlage aus und öffne die Fenster. Hier wird die Außenluft wie immer angenehm kühl. Dabei überkommt mich wie so oft diese innere Freude. Freude um unser Tal, so wie es ist. Aber was ist denn besonders am Sellraintal? Ist es doch ein Gebirgstal wie alle anderen in den Alpen auch.
Während die Melach am Straßenrand zu rauschen beginnt, wandern meine Gedanken vom Stress im Büro auf viele wichtigere Dinge. Unser Key Account Manager musste heute ein Geschäft mit dem Datenmanagement der Landesverwaltung einfädeln. Ich habe den Import des Fotoarchivs in den Cumulus-Index durchgeführt. Jetzt aber stelle ich mir vor wie vor 15.000 Jahren die schwindende Zunge des Sellraintal-Gletschers entlang der Mittelgebirgsterrassen auf den Inntal-Gletscher gestoßen ist. Gewaltig, welch tiefe Schlucht die Melach in diesem Zeitraum bereits in den Felsen gefressen hat. Alles was mich jetzt umgibt, hat nicht ein anderer Mensch sondern die Natur geschaffen. Die abstrakten Gedanken aus der menschlichen Gesellschaft werden also auf die Realität gelenkt. Sogar die Cumulus-Wolken oberhalb von mir schauen echt aus.
Wenige Minuten später beginnt sich die Schlucht zu weiten und mir erschließt sich ein gebirgiges Hochtal. Vorbei an den letzten Stanggern – die in unserer Gegend bei der Heumahd traditionell zur Trocknung verwendet werden – komme ich zügig weiter in Richtung meines Heimatdorfes. Die Talschaft besteht aus drei Gemeinden mit etwa 2.000 Einwohnern. Klitzeklein also. Die meisten Leute in der äußeren Gemeinde Sellrain pendeln nach Innsbruck zur Arbeit, während im inneren Tal einige vom Tourismus leben können.
Der Dichtestress
Der Dichtestress, den ich tagtäglich in der Arbeit, im Auto, im Zug verspüre, fällt jetzt vollkommen von mir ab. Immer wenn ich im Büro sitze, kommt mir der Gedanke, dass die Legebatteriehaltung für Hühner verboten wurde, ich selbst aber gerade in einer solchen eingepfercht bin. Weil wir in Europa und vielen anderen Teilen der Welt immer dichter aufeinanderhocken, wird der Stress kontinuierlich größer.
Im Sellraintal gibt es keinen Dichtestress bei einer Dichte von etwa einem Einwohner pro Quadratkilometer. Und es wird ihn auch niemals geben. Die Gefahrenzonenplanung für Wildbach und Lawinen lässt eine nennenswerte Expansion des Dauersiedlungsraumes nicht zu. Zu groß wäre das Risiko in der Nähe eines Lawinenstriches. Und trotzdem sind wir den essentiellen Ballungszentren so nah und können sie selbst als Gäste nutzen.
Unberührte Natur
Als „hochalpin & stadtnah“ wird dies für den Tourismus nach außen kommuniziert. Nur 25 Minuten nachdem ich die Bürotür hinter mir geschlossen habe, sehe ich bereits, was mit „hochalpin“ gemeint ist. Bei Gries, der zweiten Talgemeinde, erscheint weit hinten in einem Seitental der durch einen Firnspiegel glänzende Lüsener Fernerkogel. Mit seiner kecken Gestalt unser Wahrzeichen und mit 3.299 Metern einer der höchsten Berge im Tal. Hinter ihm verbirgt sich unser größter, etwa dreieinhalb Quadratkilometer messender Gletscher. Wirklich hochalpin und definitiv stadtnah also.
Wenige Minuten später erreiche ich schließlich meine Heimatgemeinde St. Sigmund. Die Sonne blendet mir durch die Autoscheibe ins Gesicht und beleuchtet unsere gotische Kirche, die kühn auf einem einzigartigen Moränenhügel thront. Der Fichtenwald umrahmt das Dorf in der Form eines Herzens. Vor nicht allzu langer Zeit haben sich hier zwei Gletscher vereint und ganz ohne Bürokratie unseren einzigartigen Kirchenhügel geformt.
Ganz hinten werden die letzten, großen Schneefelder auf den Nordseiten der Berge vom abendlichen Licht in ein dezentes Rot getaucht. Gestern habe ich diese großen Schneefelder noch zu einer Abschluss-Skitour für die Saison verwendet und hatte tollen Sommerfirn in der Abfahrt. Morgen werde ich wohl von der anderen Seite auf denselben Berg mit kurzer Hose, Laufschuhen und Gleitschirm starten.
Ohne eine einzige Ampel, ohne einen Kreisverkehr und ohne Stau bin ich durchs Tal bis nach Hause gekommen. Gerade in Bezug auf Letzteres bemitleide ich immer mehr die Einheimischen und Gäste unserer so weitum bekannten Nachbartäler. Dort kommt man als Fußgänger beispielsweise kaum noch über die Straße – egal an welchem Tag im Jahr.
Die Luft an diesem an sich heißen Sommerabend ist hier oben angenehm warm. Der Duft des frischen Heus wandert mir aus der Scheune entgegen. Meine Familie sitzt nach einem langen Tag am Feld gemeinsam mit Gästen und Nachbarn auf der Terrasse zum Abendessen und diskutiert, wer den besten Traktor im Dorf sein eigen nennen darf. Ist das Authentizität?
Zwischen dem Sich-gut-Verkaufen und dem Verkauft-Sein
Als bodenständig würde ich das Tal und seine Einwohner jedenfalls bezeichnen. Nicht, weil es noch eine Hand voll Alm-Öhis mit langem Bart und mit Schwielen übersäten Händen gibt. Die die Felder noch mit der Sense bearbeiten und kein Smartphone bedienen können. Sondern weil wir mit dem zufrieden sind was wir haben.
Denn eines ist gewiss: das Sellraintal war schon nachhaltig noch bevor der Begriff überhaupt bekannt wurde. Was noch vor Jahrzehnten von uns selbst als potentiell rückständig und problematisch angesehen wurde – nämlich die fehlenden Erschließungen, egal ob in Hinblick auf eine Bahntrasse, ein Skigebiet oder einen Industriebetrieb – hat sich mittlerweile zu unserem größten Gut entwickelt. Einer funktionierenden Symbiose zwischen Mensch und naturnaher Landschaft. Zwischen mäßigem Tourismus und gleichbleibender höchster Lebensqualität für uns selbst. Zwischen dem Sich-gut-Verkaufen und dem Verkauft-Sein. Zwischen dem Angestellter-einer-Hotelkette-Sein und dem Teil-eines-Familienbetriebes-Sein. Zwischen dem Rezeptionsdame-Sein und dem Allrounder-Sein. Wir und unsere ausgewählten Gäste finden allesamt Platz – ganz ohne unter Dichtestress zu leiden. „Ausgewählt“ nicht etwa, weil wir uns unsere Gäste aussuchen würden. Nein! Weil sich unsere Gäste selbst auswählen: Nur die mit einem besonders guten Gespür für unverfälschte Erholung kommen zu uns auf Urlaub.
Ich setze mich zu meiner Familie, erkläre ihnen wo wir leben dürfen und wir über unser Tal froh sein können wie es ist. Erst seit wenigen Jahren werden sich auch hier bei uns immer mehr Bewohner durch den zunehmenden Dichtestress im Alpenraum bewusst, welch unschätzbaren Wert wir in unserer einzigartigen Konstellation haben: Stadtnahe Lage und gleichzeitig doch starke Abgeschiedenheit. Wohnraumengpässe, belastender Verkehr, stressverursachende Digitalisierung und die allgemeine Schnelllebigkeit sind bei uns praktisch kein Thema. Mein Vater meint dazu, er käme nach dem Tod in die Hölle – denn das Paradies genieße er tagtäglich auf Erden.
Qualität vor Quantität
Die Tourismus-Hochburgen in unseren Nachbartälern hingegen sind dem Wachstumswahn zum Opfer gefallen und sind nicht mehr frei. Mit dem Ergebnis, sich nicht mehr temporär verkaufen zu können, sich dafür vollständig verkauft zu haben. Ja, Wachstum ist essentiell für unser Wirtschaftssystem. Aber es gibt nur eine langfristig positive Form: qualitatives, nicht mehr quantitatives Wachstum. Dabei wird man niemals an Grenzen stoßen. Qualität kann immer verbessert werden. Das Sellraintal wächst stetig und trotzdem bleibt es praktisch gleich groß wie es immer schon war.
Als ich etwas später – nachdem ich meine vollbusigen, vierbeinigen Mitarbeiterinnen gemolken habe – draußen auf der Brücke am Misthaufen sitze und dem Sonnenuntergang zuschaue, überkommt mich wieder diese unbändige, tiefe Freude. Heute ist Sonnenwende, also der längste Tag im Jahr. Neben mir sitzt meine Stall-Kammerjägerin und lang verbundene Freundin Mimi. Sie lässt sich mit Streicheleinheiten versorgen und wir sind uns einig:
Das Sellraintal ist etwas ganz Besonderes.
Und zwar nur deshalb, weil es bei uns keine großartigen Besonderheiten gibt.
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Fast täglich in den Kühtaier und Sellrainer Bergen unterwegs: Mit einer Kamera und einem Auge für die Natur.
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