Die Physikochemikerin Erika Cremer (1900–1996) gehört zu den bedeutendsten Forscherpersönlichkeiten der Universität Innsbruck. Da die Wissenschaftswelt in vielen Bereichen eine Männerdomäne war und ist, erscheint ihre Lebensgeschichte umso bemerkenswerter. Ihr Vermächtnis hat nicht zuletzt zu einem aktuellen Theaterstück inspiriert, das im Herbst 2021 zu sehen war.

Zufälle sind eine interessante Sache. Ein besonderer Zufall ist es zum Beispiel, wenn man nach coronabedingter, längerer Kulturpause im Herbst 2021 endlich wieder ins persönliche lokale Lieblingstheater, nämlich das BogenTheater in Innsbruck, geht und vom dort gezeigten Stück richtig umgehaut wird.

Die Inszenierung von „Erika und die zweite Welle“ beeindruckte mich nicht nur mit tollem Schauspiel, sondern mit kraftvollem Tanz und faszinierenden chemischen Live-Experimenten auf der Bühne. Außerdem erfuhr ich so die wahre Geschichte der Wissenschaftlerin Erika Cremer, die mir – gelinde gesagt – wahnsinnig imponierte. Eine Geschichte mit Innsbruck-Bezug, die mich schließlich auf die Idee für diesen Blogartikel brachte.

Dafür habe ich das Buch „Erika Cremer – Ein Leben für die Chemie“ von Gerhard Oberkofler gelesen und dabei einiges Interessantes erfahren. Vor allem habe ich beim Lesen aber vieles nicht verstanden, weil ich nun mal keine Naturwissenschaftlerin bin. Ich versuche hier, Erika Cremers Leben so gut wie mir möglich zu schildern und warum es mich so beeindruckt. Ihre Leistungen in der Forschung zitiere ich aus dem genannten Buch. Aber alles der Reihe nach …

WISSENSCHAFT IN DIE WIEGE GELEGT

Erika Cremer wurde 1900 in München geboren und wuchs in Köln und Berlin auf. Als Tochter des Physiologie-Professors Max Cremer war der akademische Weg für sie und ihre Brüder vorgezeichnet, aber vor allem für Erika als Frau alles andere als selbstverständlich. Während sie schnell ihre große Begeisterung für die Chemie entdeckte, schlugen ihre Brüder Hubert und Lothar technische Karrieren als Mathematiker und Akustiker ein. Erika Cremers familiärer Hintergrund aus dem Bildungsbürgertum machte ihren Werdegang erst möglich und gab ihr eine gewisse finanzielle Sicherheit, sodass sie später unbezahlte Assistenzstellen annehmen konnte. Außerdem erlaubte ihr diese Herkunft ein unpolitisches Leben zu einer Zeit, die von politischen Umwälzungen geprägt war.

CHLORKNALLGAS UND ERSTE ERFOLGE

1921 inskribierte sie sich mit einem sehr guten Reifezeugnis an der Universität Berlin für Chemie, Physik und Mathematik. Dort studierte sie unter anderem bei mehreren namhaften Wissenschaftlern. Im Jahr 1927 promovierte Erika Cremer mit ihrer Dissertation „Über die Reaktion zwischen Chlor, Wasserstoff und Sauerstoff im Licht“. Dank ihrer ausgezeichneten Doktorarbeit wurde sie als Mitarbeiterin an verschiedenen Universitäten akzeptiert und in Folge arbeitete sie mit mehreren Nobelpreisträgern zusammen, unter anderem mit Georg Karl von Hevesy oder Otto Hahn.

Die politische Situation war in den 1930er-Jahren in Deutschland mehr als angespannt, das spürten natürlich auch die Universitäten. Und Erika Cremer spürte das als Frau ganz besonders, so wurden ihre Stellen oft vor denen der Männer gestrichen oder es wurde ihre Zusammenarbeit mit von den Nazis verfolgten Kollegen beendet. Nichtsdestotrotz publizierte sie fleißig zu ihren Forschungen – insgesamt über unglaubliche 200 Veröffentlichungen bis an ihr Karriereende.

INNSBRUCK – BERUFLICHE UND PRIVATE HEIMAT

1939 habilitierte Erika Cremer an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. 1940 kam sie an die Universität Innsbruck, im gleichen Jahr erhielt sie die Lehrbefugnis. Das Fach der Physikalischen Chemie befand sich zu dieser Zeit in Innsbruck erst im Aufbau. Cremer war hier maßgeblich beteiligt und prägte das Chemische Institut über viele Jahre.

DIE GASCHROMATOGRAPHIE

Erika Cremer entwickelte die Grundlagen der Gaschromatographie, doch die vorgesehene Veröffentlichung ihrer ersten Studie ging 1944 in den Kriegswirren verloren. Cremers Studie erschien so erst 1951.

„Unter dem Sammelbegriff Chromatographie ist eine analytische und präparative Methode zum Trennen von Stoffgemischen durch fraktionierte Verteilung zwischen einer festen und einer beweglichen Phase zu verstehen. Die Gaschromatographie ist die spezielle Methode zur Trennung gasförmiger Substanzen durch Einbringen in einen Trägergasstrom, der über ein festes (flüssiges) Adsorbens geleitet wird, und ihres Nachweises durch quantitative Registrierung der Komponenten nach dem Durchbruch (zum Beispiel durch Wärmeleitfähigkeitsmessung).“ *

Die Gaschromatographie ist ein wichtiges Verfahren in der Agrar-, Pharma-, Kosmetik-, Lebensmittel- und Petrolindustrie, bei Dopingkontrollen, medizinischen Untersuchungen, in der Umweltanalytik, Forschung und in einigen anderen Bereichen. Für die Entdeckung und Entwicklung muss Erika Cremer als bedeutende Pionierin angesehen werden.

Knapp am Nobelpreis vorbei

Trotz ihrer Pionierarbeit wurde sie leider übersehen – oder übergangen? Durch die nicht erschienene Publikation in Kriegszeiten wurde ihre Forschung nicht international bekannt. Erschwerend könnten sprachliche Barrieren gewirkt haben, da Cremer anfänglich nur auf Deutsch publizierte. Außerdem wurde sie als Frau männlichen Kollegen gegenüber sicherlich benachteiligt. Ohne diese Hürden wären schnellere Ergebnisse möglich gewesen, die weitere Kreise gezogen hätten.

Als 1952 die Briten Archer J. P. Martin und Richard L. M. Synge den Nobelpreis für Chemie für ihre Entdeckung der Verteilungschromatographie erhielten, wussten sie vermutlich nichts von Erika Cremers Forschung. Dem Nobelkomitee erging es wohl ähnlich und so wurde die deutsche Physikochemikerin für den Nobelpreis nicht berücksichtigt, sondern tatsächlich übersehen.

Ein Leben für die Wissenschaft

Im Alter von 59 Jahren (1959) wurde Erika Cremer zur ordentlichen Professorin für Physikalische Chemie, zur ersten (weiblichen) „Ordinaria“, an der Universität Innsbruck ernannt. Im Vergleich zu den Karrieren ihrer männlichen Kollegen dauerte es jeweils sehr lange, bis sie im Universitätsbetrieb aufsteigen konnte.

Neben ihrer Tätigkeit in Innsbruck nahm sie an zahlreichen internationalen Kongressen teil und tauschte sich stets mit Kollegen in Briefen aus. Auch mehrere Forschungsaufenthalte in den USA nahm sie wahr.
1996 starb Erika Cremer schließlich im hohen Alter von 96 Jahren in Innsbruck.

Im Andenken an die große Forscherin stiftet die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck seit 2009 das Erika-Cremer-Habilitationsprogramm, um wissenschaftliche Frauenkarrieren zu fördern.

ERIKA UND DIE ZWEITE WELLE

Das Theaterstück „Erika und die zweite Welle“ wurde vom Bogen-Szenario (Theater Szenario in Kooperation mit dem BogenTheater Innsbruck) konzipiert, ausgearbeitet und ausgeführt. Es war im Herbst 2021 im BogenTheater Innsbruck, auf der Winklbühne in Prutz/Faggen, im Kulturlabor Stromboli und im Theater im Sudhaus in Hall in Tirol, im Kurzentrum Vivea in Umhausen sowie in der Aula im Hauptgebäude der Universität Innsbruck (Benefizvorstellung) zu sehen.

Das Bogen-Szenario ist ein Trio, das sich aus dem promovierten Chemiker Wolfgang Viertl-Strasser (Regie und Technik) und den beiden Kulturwissenschaftlerinnen Eva Maria Kirschner (Schauspiel und Tanz) und Martina Strasser (Tanz) zusammensetzt. Ich durfte dem Dreierteam meine neugierigen Fragen stellen und danke ganz herzlich für die freundliche Hilfe und für die Fotos. Mein besonderer Dank geht an Wolfgang für zusätzliche fachliche Erklärungen und Einschätzungen, die ich hier unter anderem wiedergebe.

EIN BIOGRAPHIE-THEATER DER BESONDEREN ART

Bei den vielen besonderen Aspekten dieses Stücks ist vielleicht die größte Sensation die Tatsache, dass das Bogen-Szenario „Erika und die zweite Welle“ selbst geschrieben (!) und umgesetzt hat. In den Text fließen auch viele Originalzitate von Erika Cremer ein. Eva Maria Kirschner schlüpft in die Rolle der Hauptfigur. Dabei gelang es ihr auf bemerkenswerte Weise, allein (!) auf der Bühne das gesamte Publikum zu fesseln.

MIT CHEMISCHEN LIVE-EXPERIMENTEN VEREDELT

Ein einzigartiges Highlight waren natürlich die chemischen Experimente auf der Bühne. Flüssigkeiten wechselten nach kräftigem Schütteln ihre Farbe, es rauchte und leuchtete sogar im Dunkeln. Der Wow-Effekt war riesig! Extrem beeindruckend.

Als Zuschauerin hätte ich wetten können, dass die Schauspielerin ausgebildete Chemikerin ist, so überzeugend kamen der umfangreiche Text mit wissenschaftlichen Fachbegriffen und die Erklärung sowie Ausführung der Live-Experimente daher. Mit dieser Vermutung war ich übrigens nicht allein. So berichtet das Team, dass bei jeder Vorstellung gefragt wurde, ob Eva Maria Chemikerin sei – sogar „echte“ Chemikerinnen und Chemiker stellten diese Frage. Erst später erfuhr ich, dass Eva Maria beruflich etwas ganz Anderes macht. Umso beeindruckender ist ihre starke schauspielerische Leistung.

Die Vorbereitung auf dieses Stück war jedenfalls eine besondere Herausforderung und mit vielen Chemie-Nachhilfestunden beim Regisseur verbunden. Wichtig waren zuerst das Verstehen der Experimente und dann das Wiederholen des Textes. Neben der großen Herausforderung war das Stück für Eva Maria (Zitat) „eine großartige Erfahrung.“

MIT RAFFINIERTEM TANZ VERFEINERT

Auch technisch war die Inszenierung kraftvoll, eingespielte Sprechaufnahmen und ausdrucksvolle Tanzchoreographien zeigten vor allem die zahlreichen Konflikte mit männlichen Vorgesetzten und Kollegen, die Erika zu bestehen hatte. Besonders interessant an den Tanzeinlagen mit Martina Strasser war, dass eine Frau diese Männerfiguren darstellte.

Die Kulturwissenschaftlerin und Tanzpädagogin Martina verlieh dem Theaterstück mit ihren Choreographien eine ganz besondere Note. Die Tanzdialoge erzielten einen tollen ästhetischen und dramaturgischen Effekt. Der Schlusstanz war extrem stark und für mich unvergesslich. Für den Regisseur Wolfgang macht der Schlusstanz „Herz und Seele des Stücks“ aus.

WELLEN – DAMALS UND HEUTE

Durch den Titel „… und die zweite Welle“ dachte man in Pandemiezeiten natürlich zuerst an Coronawellen. Tatsächlich war es im Stück lange offen, ob mit den „Krisenzeiten“ die aktuelle Situation oder doch eine andere Zeit der Vergangenheit gemeint war. Erst recht spät wurde klar, dass sich die „zweite Welle“ auf den zweiten Weltkrieg bezog. – Das zeigt auch eindringlich, wie aktuell die Herausforderungen für Frauen in den verschiedensten Bereichen, hier in der Wissenschaft, sind.

Das Stück bietet unzählige Facetten – von der historischen Aufarbeitung, über die überraschende Aktualität der emanzipatorischen Themen, zu den bezaubernden Experimenten und den mitreißenden tänzerischen Einlagen. Dem Bogen-Szenario gelang es so wunderbar, mit dem Stück eine Brücke über verschiedenste Disziplinen zu schlagen und eine kurzweilige, unterhaltsame Geschichte zu erzählen, die das Publikum in ihren Bann zog.

Selten habe ich solch ein leidenschaftliches, interessantes und spannendes Theaterstück erlebt. Danke dafür!

SCHLUSSSATZ

Das Bogen-Szenario hat zahlreiche Anfragen zu weiteren Vorstellungen erhalten, so auch von mir. Vor allem Schulen und die Fakultät für Chemie und Pharmazie der Universität Innsbruck wären interessiert. Diese Nachfragen und eine eventuelle Wiederaufnahme stehen also im Raum. Eine Entscheidung dazu wird im Laufe des kommenden Jahres fallen und auch von der Pandemiesituation abhängen. Theaterfreunde wie ich warten voller Vorfreude sowohl auf „Erika“ als auch auf neue Stücke.

 

Titelbild ganz oben: Scan: „Erika Cremer – Ein Leben für die Chemie“, Gerhard Oberkofler, Umschlag
Herzlichen Dank an das Bogen-Szenario Eva Maria, Martina und Wolfgang für die freundliche Zusammenarbeit.
Vielen Dank auch an Mathias Brabetz Photography für die Bilder zu „Erika und die zweite Welle“.

 

QUELLEN

Erika Cremer – Ein Leben für die Chemie, Gerhard Oberkofler, Studien-Verlag Innsbruck-Wien, 1998
*) zitiert nach „Erika Cremer – Ein Leben für die Chemie“, Gerhard Oberkofler, Studien-Verlag Innsbruck-Wien, 1998, S. 36–37
https://de.wikipedia.org/wiki/Erika_Cremer

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